Bürgersprechstunde: Neues Arbeiten braucht das Land

Deutschland schafft sich ab um sich neu zu erfinden: Nicht als Wiedergänger Sarazzins sondern als betroffener Bürger und optimistischer Optimierer mache ich mir hierzu Gedanken.

Wer werktags morgens am Frankfurter Westkreuz oder im ICE nach Köln steht hat Zeit dafür. Was produktives machen kann man nicht, im Stop & Go Email checken verbietet sich, das Bordbistro ist noch überfüllt oder schon leergefuttert, Martinshorn und Verspätungs-Ansagen verhindern jedes Telefonat. Also denkt man nach. Warum man das tut was man gerade tut. Ob dieses Tun zuträglich ist für das, was der beginnende Arbeitstag mit sich bringen wird. Ob es nicht besser wäre schon seit einer Stunde online zu sein, in Ruhe, entspannt und mit einem Kaffee in der Hand und nicht im Leerlauf auf der Autobahn oder mit eingezogenen Ellenbogen im Zwischengang zu stehen. Denn für das was Wissensarbeiter bei Ihrer Ankunft im Büro tun, dafür sind viele Büros nicht immer der geeigneteste Ort:

  • Für die Abstimmung mit einem Team welches über mehrere Standorte verteilt ist und primär per Email kommuniziert
  • Um komplexe Themen tieferzulegen während andere Menschen im Raum andere Themen und dabei Geräusche machen
  • Für ein Meeting mit einem Kunden oder Dienstleister bei dem die meisten Teilnehmer sowieso nur telefonisch dabei sind
  • Um sich mit Kollegen auszutauschen die an diesem Tag in einem anderen Stau stehen um das gleiche zu machen, nur woanders

Die Anreise zu solchen Ereignissen ist empfunden gestohlene Lebens- und quantifizierbar vergeudete Arbeitszeit die außer Emissionen, Enge, Stress und Unsicherheit nichts erzeugt. Kriege ich zwischendurch meinen Anschlußzug oder am Ziel einen Parkplatz? Bleibt Zeit sich mit den Kollegen vor der Präsentation abzustimmen, hat der Meeting-Raum eine Telefonspinne? Warum fahre ich nach X weil die Entscheidung doch in Y getroffen wird und wir die Vorstellung dort sowieso nochmal wiederholen müssen? Warum spielen wir dieses Spiel jeden Tag wenn es an den meisten nur Verlierer kennt?

Ich plädiere nicht für die Abschaffung des Büros als sozialer Raum, festem Bezugspunkt im professionellen Handeln und dem Ort wo viel geleistet wird und mitunter Großartiges entsteht. Arbeitswissenschaftliche Untersuchungen belegen die Bedeutung von Kolokation für erfolgreiche Kooperation, das war damals richtig als die industrielle Revolution durch Konzentration und Organsation von Arbeitskraft Effizienzsteigerungen ermöglichte und ist heute nicht zwangsläufig falsch. Falsch ist es allerdings, diesen Begriff nur noch rein geografisch zu verstehen. Die Bedeutung von Kolokation hat sich mit der Technologisierung unserer Arbeitsverhältnisse verändert.

Ob ich im selben Netz unterwegs bin oder die gleiche Software nutzen kann wie meine Kollegen und Partner ist mittlerweile von größerer Bedeutung als die räumliche Nähe. Wird eine Kultur von Kooperation und Kommunikation gepflegt die Qualität, Verbindlichkeit und Excellenzdenken fördert? Falls nicht wird es durch Sitzen im gleichen Gebäude und Angesichtigkeit von Betroffenen und Beteiligten nicht besser. Sind effektive Collaboration-Tools verfügbar mit denen sich eine schnelle Videokonferenz, ein geteilter Bildschirm und effizienter Zugriff auf gemeinsam genutzten Daten und Dokumente ermöglichen lässt, auch über Unternehmensgrenzen hinweg? A fool is a fool even with a tool, aber Innovation in Isolation, Entwicklung der Produkte von morgen mit den Werkzeugen und dem Denken von gestern zu schmieden ist eine erhebliche kognitive Dissonanz zwischen Anspruch und Möglichkeit.

Technologie hat es ermöglicht komplexe Geschäftsprozesse in andere Zeitzonen und Kulturkreise auszulagern und kritische Lieferketten minutiös über Kontinente hinweg zu organisieren, aber Modelle wie Vertrauensarbeitszeit und Telearbeit werden bestenfalls als „New Work“ Leuchtturm-Projekte einiger mutiger, meist junger Unternehmen tatsächlich durchgezogen. Ein Online-Meeting mit einem Partner-Unternehmen scheitert noch zu oft an inkompatiblen Schnittstellen, fehlenden Werkzeugen und lösbaren Sicherheitsbedenken. Das ist für die Einzelnen frustrierend wenn sie im Sechziger-Jahre-Style, mit Postumlauf-Mappe, Gruppenrunde, Anrufbeantworter, Firmenwagen und Sitzplatzreservierung aber ohne sicheren und stabilen und mobilen Zugriff auf ihre Arbeitsumgebung produktiv und innovativ sein sollen. Auf der Makro-Ebene, für den ehemaligen Exportweltmeister und zukünftigen Digitalstandort Deutschland kann es wirtschaftlich existenzgefährdend sein wenn sich das Land durch seine noch führenden Marken und Unternehmer nicht neu erfindet.

Extern wollen Unternehmen Lösungen kaufen, für die Qualität dieser Entscheidung und deren Ergebnissen tragen sie auch Verantwortung. Die Prozesse und Ergebnisqualität zwischen diesen beiden Punkten liegt jedoch primär liegt in der Verantwortung des Auftragnehmers. Zeitgemäße Steuerungsmechanismen, effektive und stabile Kollaborations-Werkzeuge, präzise beschriebene Aufträge, agile Erfolgs- und Veränderungskontrolle durch die Anwendung bedarfsgerechter Metriken und Performance-Indikatoren in kurzen Zyklen sind ein praktikabler Gegenentwurf dazu, alle am Montag morgen einzufliegen und in ein Großraumbüro zu stecken. Wie war das nochmal mit den Affen, den Schreibmaschinen und Shakespeares Werken…? Mit Wasserfall und V-Modell hat die NASA Raketen ins Weltall geschoßen, aber auch durch Einsatz von Methodiken wie Lean, Scrum und Rapid Prototyping können die von SpaceX auch wieder landen. Darin steckt der Appell an die Großen ihrer Zunft, die herkömmlichen Modelle von Zusammenarbeit und Leistungskontrolle zu überdenken. Methodisch ist mehr möglich heutzutage.

Arbeitspsychologisch belegen mittlerweile zahlreiche Studien wie auch die Umfragen von Unternehmen die Bedeutung von Vertrauen des Arbeitgebers darin, dass der Betreffende seinen Job macht auch wenn man ihm oder ihr nicht permanent über die Schulter kuckt, für die Loyalität und das Engagement der Mitarbeiter. Profis die Freiheit zu geben alternative Lösungswege auch außerhalb von Diensträumen und Regelarbeitszeit zu entwickeln erschließt bis dahin ungenutzte Potentiale und reduziert Kontrollaufwände wo sich längst nichts mehr seriös kontrollieren lässt. Unternehmen holen sich Spezialisten oftmals in dem Bewusstsein und dediziert aus dem Grund, dass sie gar nicht mehr die Kompetenz haben deren Arbeitsfortschritt und -prozesse qualifiziert zu beobachten und zu messen. Das ist das Wesen der Expertenarbeit, Vertrauen und Kompetenz, das eine bedingt das andere.

Der Meister, der jeden Produktionsschritt besser beherrscht als Lehrling und Geselle ist ein Paradigma, welches in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr führend ist. Erfolgreich gesteuert wird dort über transparente Ziele, definierte Ergebnisse und zeitgemäße Metriken, Optimierung passiert durch die positive Dynamik die interdisziplinäre Teams unter der richtigen Führung und mit den richtigen Werkzeugen ausgestattet nachweislich entwickeln, unabhängig davon, wo die einzelnen Akteure sich räumlich aufhalten. Gute Führungskräfte kennen und fördern diese Ansätze weil sie wissen das es auf der operativen Ebene funktioniert und auf Management-Ebene Kapazität freisetzt für Innovation, Strategie und Vision. Hierzu gibt es mannigfaltige zeitgemäße Management-Literatur, spannender finde ich Erkenntnisse der ältesten Führungstradition welche die Menschheit kennt (#militaryleadershipstyle, #missioncommand).

Breche ich diese Überlegungen ganz zivil und als Sozialwissenschaftler und Organisationsforscher standesgemäß weit ausholend wieder auf die Mikro-Ebene herunter komme ich unter anderem zu dem Schluß, dass Arbeitsteilung und Führung durch klar definierte aber lösungsneutrale Ziele schon best practice waren als es es diesen Begriff noch gar nicht gab. Und dass Einzelbüro, Bahncard und Dienstwagen keine zeitgemäßen Anreize mehr sind im Vergleich zu flexibler Arbeitszeit,  kooperativem Führungsstil, vertrauensbasierter Unternehmenskultur sowie den technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen welche effektive Kooperation im digitalen und dezentralen Arbeitsalltag ermöglichen. Mobiles und effektives Arbeiten, schnelle und sichere Anbindung an Unternehmensressourcen, Nutzung von Kommunikations- und Kollaborationswerkzeugen die im Privaten längst Alltag sind muss auch im Berufsleben möglich sein. Und das meint nicht, dass ich auch im Café, beim Abendessen mit der Familie oder im Urlaub voll eingespannt und immer erreichbar bin, sondern dass ich meinen Job bei Bedarf und Gelegenheit auch dort machen kann machen kann wo ich gerade bin, ohne potentiell nutzlose Sternfahrt zu einem Bürogebäude zeitgleich mit tausenden anderen.

Stau, Frust und überfüllte Büros leisten weder volks- noch betriebswirtschaftlich, weder für die Gesellschaft noch die Umwelt in der diese lebt einen positiven Beitrag. Einsparungen durch Reduktion der Bürofläche die ein Unternehmen vorhalten muss in dem Bewusstsein, dass eine bestimmte Anzahl von Mitarbeitern sowieso immer im Urlaub, auf Schulung, bem Kunden oder zuhause ist, lassen sich belastbar prognostizieren und hart quantifizieren. Etablierung von sicheren VPN-Zugängen zu Unternehmensressourcen und BYOD-Ansätzen senken Kosten ebenfalls auf sehr transparente Weise. Virtuelle Kolokation bspw. durch Instant Messaging, Videokonferenz und gemeinsam genutzte Online-Workspaces sind Praxis innovativer Unternehmen und derjenigen die für solche Unternehmen arbeiten. Und zwischen den Zeilen solcher Vorhaben wird die unternehmenskulturelle Basis geschaffen für gesteigerte Loyalität und Produktivität der Stammbelegschaft sowie mehr Präzision, Effektivität, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit dessen was extern zugekauft wird.

Technologische Defizite, Sicherheitsbedenken oder Steuerungsprobleme dürfen als Argumente nicht mehr gelten in Zeiten wo Flugbewegungen im Millisekundentakt, Milliarden von Finanztransaktionen pro Handelstag, Steuerung hochkritischer Produktionsabläufe und Güter-Logistik für das produzierende Gewerbe just in time erfolgreich bewältigt werden. Uber und AirBNB machen vor wie die Steuerung von kontinuierlich variierender Angebote und Nachfragen gelingt. Netflix und Paypal verändern über Dekaden gewachsene Nutzungsgewohnheiten von Services die alle Teile der Gesellschaft nutzen. Keines dieser Unternehmen verfügte zu Beginn über Marktmacht, Personal- und Kapitalausstattung, Organisations- und Produktionskompetenz einer Deutschen Bahn, Bank, Post oder Telekom, mein Rat an Corporate Germany: Beobachtet und lernt wie diese Unternehmen zusammenarbeiten, reflektiert warum sie in so kurzer Zeit mit so viel weniger so viel erreicht haben, zieht eure Schlüsse und macht euch auf den Weg!

  • Baut keine Stellen sondern Euren Innovationsrückstau ab, auch und gerade den bei der zeitgemäßen Organisation von qualifizierter Arbeit, macht die Leute dort arbeitsfähig wo sie gerade sind!
  • WLAN im Zug, Remote-Einwahl zu Hause, flexible Arbeitsräume und -zeiten, vor allem Vertrauen darin, dass die Leute einen guten Job machen können und wollen sind möglich und wichtig!
  • Macht euch attraktiv für die Leute die bisher lieber bei Apple, Google oder Nike arbeiten wollen und spart gleichzeitig Kosten für Hardware, Infrastruktur, Büroflächen, Verkehr und Transport!
  • Nutzt die stabilen gesetzlichen Rahmenbedingungen die uns in good old Germany gegeben sind aber stellt sie in Frage wo sie sowohl Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberinteressen im Weg sind!

Historische Tiefstände in der Arbeitslosenstatisktik, Fachkräftemangel und Abnutzungskriege um Talente sollten Anstöße für ein Umdenken sein. Wo die Luft für disruptive Geschäftsmodelle dünn weil der Wasserkopf dick ist muss die Devise lauten, mehr Qualität und Rentabilität zu erreichen mit dem was da ist und das eben auch dort wo sich das Innovationspotential in Form des Humankapitals eines Unternehmens gerade räumlich befindet.

Dadurch entspannt sich dann vielleicht auch die Situation morgens am Frankfurter Westkreuz und im Mittelgang des ICE nach Köln. Pendler können dann produktiv sein. Oder nachdenken. Ein bißchen träumen. Um dann Texte zu schreiben wie diesen. Oder zu Hause bleiben. Um dort was zu arbeiten. Nicht immer. Aber immer öfter. Nicht schlechter oder unkontrolliert. Nur anders.

Nachtrag: Ich habe der FDP die Flucht aus der Regierungsverantwortung nach der letzten Bundestagswahl noch nicht verziehen: Besser gar nicht als schlecht zu regieren kann nicht der Anspruch einer demokratischen Partei sein. Zur letzten hessischen Landtagswahl bewarb sich ein FDP-Kandidate mit dem Slogan “Stau ist Freizeitverschmutzung”. Bin immer noch sauber, aber recht hat er.

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